Paradigmenwechsel
Seit sich die Fotografie einer wachsenden Anerkennung durch die Museen erfreut, gerät die vorherrschende Anschauung über Kunst, zumal in Deutschland, wo sie stets mit Entschiedenheit proklamiert wurde, ins Wanken. Jener Kunstbegriff, der Kunstwerken Autonomie gegenüber allen Einflußsphären von ausserhalb – Politik, Gesellschaft und Religion – attestiert. Im Kantschen „Wohlgefallen“ bei der Betrachtung von Kunstwerken machen sich durch die Fotografie – sowie die anderen technischen und elektronischen Medien – zunehmend Interessen geltend, vorwiegend solche kommerzieller Natur.
Die Fotografie und die übrigen „neuen“ Medien vermitteln bestimmte Vorstellungen des Sichtbaren im Lichte unterschiedlicher Interessen und ihre Bilder entstanden in der Mehrzahl dank der Aufträge von Interessenten aus Politik, Wirtschaft und Kultur – etwa Presse. Entsprechendes war auch für die Kunst selbstverständlich, bis sich in den Strömungen der Avantgarden der autonome Kunstbegriff auskristallisierte, der künstlerische Qualität ausschließlich nach Maßgabe der Kunst bemißt, Kunst um der Kunst willen.
Ehe die Fotografie in die Kunstsphäre eingemeindet wurde, hatten sich Fotografinnen und Fotografen nach anderen Gesichtspunkten zu richten, solchen beispielsweise, die auf Wirkung, Prägnanz und – auch – Wiedererkennbarkeit bedacht waren. Insofern spielt die Fotografie im Zusammenhang musealer Praxis im Vergleich zu den Zeugnissen der avancierten Kunst die Rolle des „agent provocateur“. In besonderer Weise ist dies der Fall bei professionellen Fotografien. Zwar werden sie im Museum kraft spezifischer Präsentation – Passepartourierung, Rahmung, Vereinzelung – aus ihrem ursprünglichen Kontext – Illustrierte Zeitung, Werbung – herausgenommen, bewahren sich aber nichtsdestoweniger einen Rest ihres ursprünglichen Zweckes. Zugleich lenkt die Fotografie den Blick vom musealen Raum, der den Kunstcharakter legitimiert, auf das erheblich umfangreichere Feld der „visuellen Gestaltungskultur“ (Martin Warnke) und relativiert damit den Ausschließlichkeitsanspruch der Kunst – Kunst. Außerdem geraten dadurch die eigentümlichen Qualitäten der „kommerziellen Kunst“ (Erwin Panofsky) ins Visier – und der noch vorherrschende Kunstbegriff beginnt sich allmählich zu wandeln. Davon profitierte zunächst das Kino, dann die Fotografie. Ein Paradigmenwechsel zeichnet sich ab.
Klaus Honnef
Bonn im August 1999