„Es gibt sie noch …“
Als Askan Hertwig vom Forum für Angewandte Kunst meinen Titelvorschlag hörte, ist er ein wenig erschrocken. „Es gibt sie noch, die Kunsthandwerker“ – so ergänzte er unwillkürlich den unvollständigen Satz und unterstellte mir ironische Distanz zum Gegenstand meiner kleinen Rede. Der Reflex ist allzu verständlich. Müssen sich die Kunsthandwerker nicht tatsächlich als letzte Überlebende einer Spezies fühlen, deren Existenz heute, in der wirtschaftlichen Eiszeit, inmitten einer Geiz-ist-geil-Gesellschaft bedrohter ist denn je?
Dabei hatte ich etwas ganz anderes im Sinn. Sie wissen bestimmt, wie der Satz weitergeht! „Es gibt sie noch – die guten Dinge“. Und dahinter steht ein Versandhändler mit Sitz im westfälischen Waltrop, der mittlerweile auch in München und in Hamburg Ausstellungs- und Verkaufsräume unterhält. Sein Katalog ist über 350 Seiten stark und das Sortiment reicht von Möbeln, Büro- und Küchenutensilien bis hin zu Kleidung und Lebensmitteln. Der Name ist Programm: Manufactum. Auch wenn längst nicht alle der rund 4200 „guten Dinge“ handgemacht sind, gilt ein Ethos, wie man es aus dem Handwerk kennt. Das Vorwort zum Warenkatalog führt dessen Aspekte auf: arbeitsaufwendige Fertigung nach „hergebrachten Standards“, Funktionstüchtigkeit, Materialgerechtigkeit, wobei es sich um so genannte klassische Materialien wie Metall, Glas und Holz handelt, Langlebigkeit der Produkte jenseits von Moden und Trends. Man glaubt, eine Schrift des guten, alten Werkbundes in den Händen zu halten. Überhaupt liegt ein sentimentaler, ein nostalgischer Glanz über dem Ganzen. Der akademisch gebildete Leser und erst recht der Käufer darf sich so als Retter einer vom Untergang bedrohten Produktkultur fühlen. Für sein Engagement belohnen ihn die mit historischen Exkursen und Aperçus gespickten Texte. Hier darf er sich seines Bildungsstands vergewissern und selbst im Begleittext zu Soester Pumpernickel an einem kleinen Flaubert-Zitat erfreuen.
Wir erkennen: Es gibt sie noch, die guten Dinge. Und offensichtlich auch Käufer, die gerne bereit sind, gutes Geld dafür auszugeben. Wie sonst erklärt sich der Erfolg von Manufactum. Man muss sie nur kennen, die klugen Köpfe, die sich ansonsten hinter Feuilletons verstecken. Auf den Überbau kommt es an. Und mit dem tun sich Kunsthandwerker schwerer als die, die gern und schnell das Wort Design in den Mund nehmen. Warum ist das so? Schließlich können gerade angewandte Künstler für ihre Arbeit auf jenen Qualitätskanon verweisen, den der Manufactum-Katalog predigt. Die Antwort fällt nicht leicht. Hat es womöglich mit Grundsätzlichem zu tun? Damit etwa, dass das Kunsthandwerk im Niemandsland zwischen dem Design und der freien Kunst beheimatet ist? Schauen wir genauer hin: Mit dem Design teilt sich das Kunsthandwerk die Sphäre des Nützlichen. Der Unterschied liegt in der Organisation der Arbeit. Hier Arbeitsteiligkeit, die dem Designer die Entwurfsarbeit zuweist, dort die Einheit von Entwurf und Ausführung. Hier manufakturelle oder industrielle Produktion, dort eine – und nun entscheidet die Wortwahl – „vor“industrielle Produktionsweise. Wer so spricht, argumentiert im Sinne eines historischen Fortschritts. Ist es Verweigerung, sich nicht immer raffinierteren maschinellen Fertigungsmethoden und neuen Materialien stellen zu wollen? Ist es nicht elitär, den sozialen Maßstab auszublenden? Wen erreicht der Kunsthandwerker mit seiner Arbeit? Gründe wie diese waren es, die das Bauhaus Mitte der zwanziger Jahre zu einem Kurswechsel brachten. War das Weimarer Bauhaus noch vom Expressionismus beseelt und handwerklich orientiert, so verlagerte sich die Zielrichtung mit dem Umzug nach Dessau. Gropius begriff nun das Handwerk als „Träger der Versuchsarbeit für die industrielle Produktion“. In dieser neuen „Werkeinheit“ sollte seine zukünftige, dienende Bestimmung liegen. Der mühsam seit der Arts-and-Crafts-Bewegung erkämpfte Status verlor sich im Typenlaboratorium der Industrie. Bildende Künstler und Architekten waren es gewesen, die das Kunsthandwerk aus einem irrwitzigen Wettbewerb mit der Kunstindustrie befreit hatten. Sie hatten es wieder eingeschworen auf die alten Tugenden aus der Zeit vor den Sündenfällen der Industrialisierung und des Historismus und damit stark gemacht. Nun änderten sich die Vorzeichen. Künstler und Architekten erkannten in der Industrie die große Gesellschaft und Kultur bestimmende Macht. Die Avantgarde verbündete sich mit der Industrie. Die Nationalsozialisten konnten da nur ideologisch gegensteuern. Dem Kunsthandwerk war freilich damit nicht gedient, schließlich musste es sich nach dem Krieg wieder von dieser braunen Patenschaft distanzieren.
Hier nun verliert sich in der Regel, was wir über das Schicksal des Kunsthandwerks zu berichten wissen. Es gibt sie noch … immer nicht: Eine umfassende Geschichte des Kunsthandwerks, die Licht in jenes Dunkel brächte, das nach der Blüte um die Jahrhundertwende und dem Kurswechsel des Bauhauses über die Kunsthandwerker hereingebrochen scheint. Einzeldarstellungen, die gibt es freilich. Doch die Zusammenschau fehlt, der Vergleich der Entwicklungen in den verschiedenen Ländern. Warum etwa genießen die Applied Arts im angelsächsisch-amerikanischen Raum so viel mehr Wertschätzung? Fragt man nach bedeutenden Kunsthandwerkern der Nachkriegszeit: Fehlanzeige. Eine Geschichte des Kunsthandwerks nach 45 könnte vielerlei Korrekturen anbringen. Etwa am Bild von Wilhelm Braun-Feldweg, der als Theoretiker ganz dem Industrial Design zugeschlagen wird. Dabei hat sich Braun-Feldweg mit einem so bedeutenden Buch wie Metall, 1950 erschienen, gleichermaßen an Designer wie Kunsthandwerker gewandt. Mit seinem zwei Jahre später erschienenen Buch Schmiedeeisen hatte er sogar ausschließlich ein kunsthandwerkliches Klientel im Auge. Ein zweites Beispiel: Im Zusammenhang mit dem so genannten Neuen Deutschen Design der frühen achtziger Jahre wurde die handwerkliche Produktion wiederentdeckt. So ist etwa im Katalogbuch zur bekannten Düsseldorfer Ausstellung Wohnen von Sinnen die Rede vom „Versuch, eine Alternative zur drückenden Festlegung zu finden, die von der Industrie auf den gestalterischen Entwurf ausgeübt wird.“ Angestrebt wurde die „Fähigkeit zur Kontrolle des umfassenden Entstehungsprozesses eines Produkts“. Beispiele für diesen Aufbruch sind im Neuen Museum zu studieren. Ihr Etikett: Design. Ihre Auswirkung auf das Selbstverständnis des Kunsthandwerks: Fragezeichen. Klänge es nicht so abgenutzt, ich wäre versucht zu sagen: Nur wer um seine Geschichte weiß, kann in die Zukunft gehen. Doch nicht nur historische Abhandlungen und eine darauf beruhende Theoriebildung fehlen.
Es gibt sie noch … viel zu selten: Museen, die das Kunsthandwerk über die Mitte des vergangenen Jahrhunderts hinaus dokumentieren. Angewandte Kunst umfasst Design und Kunsthandwerk. Im Neuen Museum lässt Die Neue Sammlung, das Staatliche Museum für angewandte Kunst, dies vergessen. Gäbe es nicht den Bayerischen Staatspreis für Nachwuchsdesigner, wäre uns bislang kein Beispiel zeitgenössischen Kunsthandwerks ins Haus gekommen. Wie es anders geht, zeigt nicht nur das Germanische Nationalmuseum, sondern zum Beispiel auch das Badische Landesmuseum Karlsruhe in seinem der angewandten Kunst in allen Facetten gewidmeten Museum beim Markt.
Doch neben den Historikern und den Museumsleuten, sind sie natürlich zuallererst selbst in die Pflicht genommen: die Damen und Herren Kunsthandwerker. Verstecken gilt nicht und bringt nichts. Reservate darf es nicht geben. Und nur mit den alten Floskeln von der Schönheit der Materialien oder den alten Traditionen ist es nicht getan. Erwarten dürfen wir nicht mehr und nicht weniger vom zeitgenössischen Kunsthandwerk als die Teilnahme an allen Diskursen, auch an denen, die im Industriedesign und in der freien Kunst geführt werden. Dies gilt umso mehr, als die Grenzen durchlässiger sind denn je. Auch Ausflüge sind durchaus statthaft: Ich denke dabei zum Beispiel an Katja Höltermanns Basketballkorb, der momentan am Zumikon zu bestaunen ist. Und bitte keine Scheu vor Experimenten! Also Halbfertigprodukte einbeziehen, Materialien und Dinge recyceln, sich lösen von der Verpflichtung zum Kostbaren, Formen entwickeln, jenseits von epigonaler Nachahmung puristisch-glatt-funktionalistischen Designs, das es so übrigens schon gar nicht mehr gibt. Und begreifen lernen, dass die kunsthandwerkliche oder manufakturelle Produktion Wendigkeit verleiht und gestalterischen Vorsprung erlaubt. Die sich unter den Vorzeichen eines sich zuspitzenden Monopolkapitalismus und fortschreitender Globalisierung ärmer werdende Welt der Dinge durch Kluges, Schönes, Anrührendes, Witziges und Sperriges bereichern. Damit es sie noch lange gibt, die Kunsthandwerker.
Und schließlich: Es gibt sie noch, die guten Nachrichten. Der Trend- und Jugendkulturspezialist Ulf Poschardt will wissen, dass sich in den kommenden Jahren ein „wissender Konsum“ nach der Devise „Kaufe wenig, aber gut“ durchsetzen wird. Rosige Aussichten vielleicht also auch für das Kunsthandwerk. Woher ich die Nachricht habe? Natürlich aus der letzten Ausgabe der Manufactum-Hausnachrichten.
Glückwunsch an das Forum zur gelungenen Ausstellung!
Und uns allen einen vergnüglichen Abend! Danke!
Dr. Thomas Heyden, Nürnberg