Die Bewertung des Kunsthandwerks in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert – eine Analyse

Die Bewertung des Kunsthandwerks in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert – eine Analyse

Vortrag im Rahmen der Ateliertage für Angewandte Kunst Nürnberg, am 2.12.2007

Ich nehme einmal an, daß man mich zu diesem Vortrag eingeladen hat, weil ich mich in der Vergangenheit des öfteren in Vorträgen und Aufsätzen mit den Kategorien Kunst – Kunsthandwerk – Design auseinandergesetzt habe.

Dies geschah (und geschieht) jeweils vor dem Hintergrund meiner beruflichen Biographie, die am Badischen Landesmuseum in Karlsruhe begann und mich über die Betreuung der Kunstgewerbeabteilung am Kunstmuseum Düsseldorf schließlich vor einigen Jahren bis zur Leitung eines Museums der Angewandten Kunst – nämlich dem Museum August Kestner in Hannover – führte.

Wenn ich also im Folgenden über das Kunsthandwerk spreche, so ist dies nicht nur theoretisch sondern auch praktisch, d.h. bezogen auf meine langjährige Museumsarbeit, fundiert.

Sie werden mir sicher folgen, wenn ich dabei aus gutem Grund die „benachbarten“ Begriffe Kunstgewerbe, Kunst und Design nicht außer acht lassen kann.

Beginnen wir in der Gegenwart und googeln Sie mit mir:

Der Begriff Kunstgewerbe wird tatsächlich 867.000 Mal im Internet aufgeführt. Z.B.:

„Kunstgewerbe Gerlach.

Erzgebirgischer Hersteller von traditionellen Weihnachtspyramiden, mechanischen Fensterbrettel’n, handgeschnitzten Figuren wie Krippenfiguren“.

Oder:

„Kunstgewerbe Mücke Bastelbedarf.

Bei Mückes Shop für Kunstgewerbe und Bastelbedarf, Gast… Vielen Dank und viel Spaß beim Einkauf. Ihr Team von Kunstgewerbe Mücke.“

Ein weiteres Beispiel:

„Kunstgewerbe Manfred Mages.

Milchkannen Schützenscheiben Bauernmalerei. Kunst malen Möbel Teller“

Am kuriosesten ist der folgende Eintrag:

„Regina Schmidt Heimtierbedarf und Kunstgewerbe…

Futter der Marken Josera, Uniq, RoPo. Große Auswahl an Snacks. Außerdem wird Verspinnen von Haar aller langhaarigen Hunde und Katzen (angeboten)“

Soweit ist es also gekommen!

Selbst für das Verspinnen von langhaarigen Hunde und Katzenhaaren wird die Kategorie des Kunstgewerbes in Anspruch genommen!

Insofern wundert man sich also nicht, wenn bei der Internet-Übersetzungshilfe „woxikon – powered bei True Term“ zu lesen ist:

„Auf Kunstgewerbe gemacht

= abwertend (deutsch),

= arty–crafty oder artsy-crafty (englisch)

= pseudo-artistico (italienisch )

Somit liegt es auf der Hand und bedarf nach den zitierten Beispielen sicherlich keiner weiteren Begründung mehr, daß Sie / daß wir mit einem solchen Begriff des Kunstgewerbes nicht zu tun haben wollen.

Durch die ubiquitäre Verwendung für (fast) alles, was mit handwerklichem Tun im weitesten Sinne in Verbindung gebracht werden kann, ist dieser Terminus in unserer Zeit zu einer nutzlosen Worthülse verkommen.

(Eine Feststellung, die auch auf das Wort Design vgl. Hairdesign, Naildesign usw. zutrifft.)

Es sei zudem daran erinnert, daß Kritiker der sogenannten freien Kunst

Kunstwerke immer dann als „kunstgewerblich“ bezeichnen, wenn sie besonders abqualifizierend und vernichtend über Arbeiten zeitgenössischer Künstler urteilen.

Kunstgewerbe hat in diesem Kontext die Funktion eines – nicht weiter begründeten oder besser: zu begründenden – Schimpfwortes.

Wie es dazu kam, werde ich gleich noch zu erklären versuchen.

Parallel zum Begriff Kunstgewerbe wird selbstverständlich auch der Begriff Kunsthandwerk gebraucht. Glaubt man dem Internet (Google), so erfreut sich dieser einer noch größeren Beliebtheit, denn wir finden über 2 Mio. Einträge.

Auch hierzu einige kuriose Beispiele:

„Der Kunsthandwerker-Shop Dagmar Kitzmann. Traumfänger. Dreamcatcher, Holz Masken, Silberschmuck, Holz Skulpturen hier in unserem Kunsthandwerker-Shop.“

Oder:

„Buddha Asiatika – Gecko.

Buddha – Alles rund um Asiatika Kunsthandwerk… Die Kategorie Kunsthandwerk bietet Themengebiete zu Holzschnitzereien, Masken, Bronze, Alpakafiguren“

Weitere Beispiele:

„Schmuck Kunsthandwerk Matthis

Schmuck und Kunsthandwerk in individuellem Design (!!). Unter anderen keltische und skandinavische Motive“

„Weihnachtsmarkt Bonn: Kunsthandwerk im Landhausstil auf dem Münsterplatz.

Kunsthandwerk Klaus Beck auf dem Weihnachtsmarkt Bonn am Münsterplatz…“

Einer ernst zunehmenden Definition kommt der folgende Eintrag dann relativ nahe:

„Kunsthandwerk bei eBay: Als Kunsthandwerk bezeichnet man die Produktion von Zier- und Gebrauchsgegenständen in eigener Handarbeit …“

Bei der Internetrecherche fehlt jetzt nur noch der Begriff der Angewandten Kunst.

Dafür sind 1.780.000 (= ca. 1,8 Mio.) Seiten bei Google gelistet. Stichproben förderten in diesem Falle freilich keine mißbräuchlichen oder kuriosen Anwendungen zu Tage. Vielmehr wird verweisen auf die großen einschlägigen Museen Angewandter Kunst wie Köln, Frankfurt/Main oder Wien oder – wen wundert’s – das Forum für Angewandte Kunst Nürnberg.

Fassen wir zusammen:

Im heutigen Gebrauch, wofür das Internet nur ein Spiegel der gesellschaftlichen Realität ist, rangiert „Kunsthandwerk“ mit über 2 Mio. Nennungen an der Spitze, gefolgt vom Terminus „Angewandte Kunst“ mit

Ca. 1,8 Mio. Seiten und schließlich und letztlich „Kunstgewerbe“ mit ca. 900.000 Einträgen.

Dem Favoriten Kunsthandwerk wollen wir uns jetzt zuwenden und diese Kategorie zusammen mit den

Begriffen Kunstgewerbe und Design zu präzisieren und in Verbindung mit der entsprechenden Museumskategorie historisch verorten. Sie erlauben mir als „Museumsmann“ diesen Bezug auf die Museen, denn so wird meine Argumentation hoffentlich anschaulicher.

Derartige Museen haben sich selbstverständlich seit den ersten Gründungen im 19.Jh. historisch gewandelt, ja müssen dies meiner Meinung nach auch ständig tun, gerade damit sie keinesfalls den Anschluß an die Gegenwart verlieren. Nicht zuletzt spiegelt der Wandel dieser Museen und ihres Selbstverständnisses auch den gesellschaftlichen Konsens über das, was wir mit der derzeit eingebürgerten Bezeichnung der angewandten Kunst meinen.

Im Folgenden kann ich mich auf die noch immer grundlegende Untersuchung von Barbara Mundt über „Die deutschen Kunstgewerbemuseen im 19. Jahrhundert beziehen“.

Letztlich geht es ja um den jahrhundertealten Streit über die Hierarchie der Künste.

Bald nach Gründung der Kunstakademien im 17.Jh. hatten sich Malerei Bildhauerei und Architektur vom Handwerk gelöst. Das gesellschaftliche Renommee dieser drei (freien) Künste übertraf schnell das der Handwerksberufe. Auf den Industrie- und Kunstausstellungen seit dem 18.Jh. wurden Erzeugnisse des Kunstgewerbes – hier benutze ich den im 19.Jh. gebräuchlichen und keinesfalls abwertenden Begriff – gemeinsam mit Industrieprodukten und mit den Werken der Kunst gezeigt. Beurteilungskriterien für Kunstgewerbe waren bis um die Mitte des 19.Jh Originalität und Qualität der technischen Verarbeitung – nicht aber gestalterische Qualitäten.

Dies bildet sich auch in der Begriffsgeschichte ab:

„Die Bezeichnung Kunstgewerbe, Kunsthandwerk, angewandte, dekorative und ornamentale Kunst sind späten Datums. Statt dessen wurden vor und um 1800 verwandt: mechanische Künste (Akademiebestimmungen, Vereinstitel), ‚Industrie’ als Synonym von ‚Fleiß’, Manufaktur, Kunstmanufaktur. Den späteren Bezeichnungen am nächsten stehen ‚Kunstgewerk’ und ‚Kunstindustrie’.“ (Mundt 1974, 14).

‚Kunstindustrie’ , ‚Kunstgewerk’ oder ‚Kunstfleiß’ wurden seit 1800 mehr im gehobenen Sprachgebrauch verwendet, umgangssprachlich begnügt man sich mit den Bezeichnungen ‚Handwerk’ oder ‚Gewerbe’. Kunst wurde als etwas zusätzliches zum Gewerbe verstanden.

(Vgl. das programmatische Ziel des 1820 gegr. Preußischen Gewerbeinstitutes, Berlin, die „Anwendung der Kunst auf das Gewerbe“ zu fördern).

In den 1850er/1860er Jahren spricht Gottfried Semper von „technischen“ bzw. „industriellen“ Künsten, von „Kunstfleiß“ oder „Technik“. Die Begriffe Kunstgewerbe, Kunsthandwerk und Kunstindustrie etablieren sich in diesen Jahrzehnten allmählich, wovon auch Justus Brinckmanns Aufruf zur Gründung eines Hamburgischen Museums für Kunst und Gewerbe zeugt: Denn auch er spricht explizit von „Kunstgewerbe“.

1867 schreibt Julius Lessing über „Kunsthandwerk“ und „Kunstindustrie“ auf der Pariser Weltausstellung.

Das erste deutsche Museum mit dem Namen „Kunstgewerbemuseum“ war das Leipziger, gefolgt vom Berliner, das ursprünglich „Museum für Kunst und Gewerbe“ heißen sollte, dann schlicht „Gewerbemuseum“ tituliert und schließlich 1879 in „Kunstgewerbemuseum“ umbenannt wurde.

Das Hamburger Museum heißt seit seiner Gründung „Museum für Kunst und Gewerbe“. In den 70er Jahren des 19.Jh. hatten sich Begriff und Institution „Kunstgewerbe“ und “Kunstgewerbemuseum“ endgültig durch gesetzt.

Die positive Besetzung dieser Begriffe währte jedoch nur ein Vierteljahrhundert. Schon 1895 bemerkt Alfred Lichtwark: „Heute lächelt man bereits über das einst glorreiche Wort ‚Kunstgewerbe’, gleichzeitig mit dem Wort ‚stilvoll’“ (zit. Nach Mundt 1974, 15).

Die Auflösung vieler deutscher Kgw.-Museen – wovon Düsseldorf und Hannover nur zwei, allerdings typische Beispiele sind – zu Anfang des 20.Jh. bis in die 1920er Jahre zeugen von dieser Abwertung des Kunstgewerbes. Sie zeigen aber auch, daß die Idee der Vorbildersammlung und das konkrete Einwirken auf das zeitgenössische Handwerk und die Industrie obsolet geworden sind. Mit dem Ende des Historismus mußte auch notgedrungen ein Ende vieler Kunstgewerbemuseen einher gehen.

Man erinnere sich, daß den Ausschlag zur Gründung derartiger Museen von Berlin bis Ulm und von Straßburg bis Chemnitz das schlechte Abschneiden des deutschen Handwerks, Gewerbes und der Industrie auf den großen internationalen Ausstellungen namentlich den Weltausstellungen von 1851, 1862, 1867 und 1873 gegeben hatte.

Stellvertretend für viele andere Gründungsaufrufe und programmatische Schriften macht ein Zitat aus der ersten Publikation des 1876 gegründeten kleinen Gewerbemuseums in Schwäbisch Gemünd klar, worum es ursprünglich ging:

„Die kunstgewerbliche Reform ist eine der brennendsten und besonders für Deutschland wichtigsten Fragen der Zeit; denn es handelt sich dabei nicht bloß um ästhetisch-theoretische Interessen, sondern um eminent praktische volkswirtschaftliche Verhältnisse, um Wohlstand, Blüte und Macht der Nation.“ (zit. Nach Mundt 1974, 12).

Nach Barbara Mundt sind die genuinen Aufgaben fast aller deutschen historischen Kunstgewerbemuseen in vier Gruppen einzuteilen:

„1. Lehrabteilung und didaktische Aktion: Schule, Zeichenunterricht, Werkstätten, Kurse, Vorträge, Wanderlehrkurse.

2. Schauabteilungen und –veranstaltungen: Muster- und Vorbildersammlung, Ausstellungen, Ausleihe von Sammlungsinventar, Vermittlung von Reproduktionen aller Art.

3. Forschungsabteilungen: Bibliotheken, Labors, technische Prüfstationen.

4. Abteilungen und Aktionen zu direkter Wirtschaftshilfe: Designvermittlungsbüro, Auskunftsstelle für technische, wirtschaftliche und künstlerische Fragen, Adressen- und Patentsammlung etc.“

So weit ich sehe, sind die wirklichen ideologischen und gesellschaftlichen Gründe für den Niedergang der Kunstgewerbemuseen – von denen bekanntlich nur Hamburg, Berlin, Frankfurt, Leipzig, Dresden (und Gera?) als eigenständige Institute weiterhin existieren – nach einer nur relativ kurzen Blüte von maximal zwei Generationen noch nicht gründlich wissenschaftlich untersucht worden.

Aus kunsthistorischer Sicht bleibt jedoch zu konstatieren, daß sich mit der Phase – oder nennen wir es besser Mode? – des Jugendstils auch ein anderes Verhältnis zur Geschichte etablierte. Sie, die im Historismus seit der Mitte des 19.Jh. maßstabsetzende, inspirierende Geschichte konnte und sollte nicht länger Anreger für zeitgenössische Gestaltung sein.

Wobei freilich nicht vergessen werden darf, daß die Kunstgewerbemuseen nie nur Vorbilder(Sammlungen) für die sklavische Nachahmung in Handwerk und Gewerbe liefern wollten.

Denn „das Museum hat nicht die Aufgabe, Stücke zu suchen, welche der Handwerker unserer Tage sklavisch kopieren könnte; es geht vielmehr von der Ansicht aus, daß kein Stück irgendeiner früheren Periode unmittelbar der Jetztzeit zum Vorbilde dienen könnte, sondern jede von der Vorzeit überlieferte Form umgearbeitet werden muß entsprechend den veränderten Grundbedingungen der Technik, des Materials und der Gebrauchsbestimmung unserer Zeit“ schreibt Lessing 1889.

Folglich gingen die Kunstgewerbemuseen mit zeitgenössischen Handwerkserzeugnissen relativ zurückhaltend um, da man fürchtete, diese würden zu plumpen Plagiaten führen.

Erst die Museen der Angewandten Kunst unserer Zeit öffnen sich wieder der zeitgenössischen Diskussion um Gestaltung oder sollten dies zumindest tun..

Wie aber ging es nach der Auflösung vieler Kunstgewerbemuseen und der Einverleibung ihrer Bestände in andere Museen und Sammlungen weiter? Was er Jugendstil mit sich gebracht hatte, verstärkte sich in den 1920er Jahren: die Abkehr von der Geschichte als Vorbild. Geschichte oder genauer gesagt historisches Kunsthandwerk sollte sich fortan zum einen als kulturhistorisches Dokument behaupten oder – was sicherlich viel schwieriger war und ist – als Kunst, zumindest als Werk der Kunstfertigkeit.

Wie aber sah es in den Museen aus, die Kunsthandwerk und Kunst ab den 1920er/1930er Jahren gemeinsam zu verwalten und auszustellen hatten. Aus eigner Erfahrung weiß ich, daß z.B. im Düsseldorfer Kunstmuseum die „freie“ und die „angewandte“ Kunst bis in die 1980er Jahre fein säuberlich nach Stockwerken getrennt präsentiert wurden.

Erst Mitte der 1980er Jahre – nach der Sanierung des Gebäudes – entschlossen wir uns damals zu einer chronologischen, „gemischten Aufstellung“. Relativ widerspruchslos ließ sich dieses Konzept für die Zeit bis etwa 1800 realisieren. Problematisch wurde es dann, als wir uns mit Objekten der damals begonnenen Designsammlung zunehmend der Gegenwart näherten. Der für die Moderne zuständige Kunsthistoriker-Kollege mochte dem gemischten Konzept gerade noch bis in die Bauhaus-Zeit folgen; mein damaliger Chef erkannte – und fürchtete offenbar – die „skulpturalen Qualitäten“ eines Stuhles in der Nähe einer zeitgenössischen Plastik.

Ebenfalls in jenen Jahren – Mitte der 1980er – zeigten das Kunstmuseum Düsseldorf eine viel diskutierte, viel beachtete und interessanter- (oder bezeichnender- ?) weise außerordentlich gut besuchte Ausstellung über zeitgenössische Tendenzen im Möbel- und Leuchtendesign – das sich plötzlich wieder handwerksmäßig gerierte, Unikate schuf oder Anleihen bei der Kunst machte.

Genau in diesen Jahren begannen einschlägige Kunstgewerbemuseen sich in „Museen für angewandte Kunst“ umzubenennen, allen voran das Wiener, das im übrigen einen Prozeß gegen das Frankfurter angestrebt hat, um diesen Namen schützen zu lassen.

Peter Noever begründet sein neues Konzept, wovon dieser Name ja nur Ausdruck sein soll, so:

„Gerade das ‚Bewahren’ von Objekten und Sammlungselementen ist untrennbar mit der Verantwortung verbunden, deren Stellenwert aus der jeweiligen Zeit heraus zu verdeutlichen. Damit einen Prozeß, der die Ideologie von ‚freier’ und ‚bildender’ Kunst

allmählich auflöst, zu initiieren, war der Ausgangspunkt für die – 1986 – eingeleitete, grundlegende Neudefinition.“ … Denn „das MAK als gesellschaftliche (will) an der Gestaltung von kulturellen Werten verantwortungsbewußt mitwirken. In diesem Sinn ist das Haus auch als ‚Kunstmuseum im weitesten Sinn’ zu verstehen, dessen Auftrag darauf basiert, aus der Zeit heraus die Zeit zu begreifen und zu definieren.“ (Führer MAK 1996, 4).

Wie bereits oben erwähnt, sucht das Wiener Museum in der Tat die Konkurrenz zu den Kunstmuseen – eine meiner Meinung nach falsche Konzeption, die eher von Minderwertigkeitskomplexen als von Selbstbewußtsein zeugt.

Bald nach Wien ersetzte auch das Kölner Kunstgewerbemuseum seinen Namen durch „Museum für Angewandte Kunst“. In einer vorbildlichen, vom stellvertretenden Museumsdirektor, Gerhard Dietrich, 1988 zum 100-jährigen Bestehen verfaßten Chronik der Geschichte des Kölner Museums heißt es einleitend:

„Ein Kölner Museum wird hundert Jahre alt. Seit 1987 mit dem neuen Namen ‘Museum für Angewandte Kunst’ für die gewandelten Aufgaben der nächsten hundert Jahre gerüstet, blickt das Kölner Kunstgewerbemuseum auf in bewegtes Jahrhundert zurück“ (Gerhard Dietrich, Museum für Angewandte Kunst, Köln. Chronik 1888-1988. Köln 1988, 7).

Leider habe ich bei der Vorbereitung dieses Vortrages keine ausführliche Begründung für die Namensumwandlung finden können. Sicherlich rüstet man sich für die nächsten hundert Jahre nicht nur durch terminologische Maßnahmen. Vielmehr sind neue Ziele, Konzepte, Aufgaben und Visionen zu formulieren, um aktuell und gefragt zu bleiben.

Meiner Meinung wird in dem Begriff der Angewandten Kunst in Verbindung mit der Institution Museum der Anspruch formuliert, genau so ernst wie die Museen der sogen. freien Kunst genommen zu werden. Im jahrhundertealten Rangstreit der Künste will man nun gleichziehen und nicht nur Exponate zweiter Klasse verwalten und ausstellen.

Ein großer Fehler wäre es freilich, das Profil der Kunstgewerbemuseen zu verwässern, indem man das bessere Kunstmuseum sein will – wie derzeit in Wien.

Was für mich den Titel „Museum für Angewandte Kunst“ darüber hinaus noch so interessant macht, ist das sich darin manifestierende gestiegene Selbstbewußtsein und der sicherlich auch provokatorische Unterton.

Gleiches gilt auch für das Diktum Hans Wichmanns, des langjährigen Direktors der „Neuen Sammlung“ in München, vom Design als „Kunst, die sich nützlich macht“.

Eigentlich könnte alles so einfach sein: Kunst ist Kunst, da nach bürgerlichem Verständnis „frei“, Kunsthandwerk ist Kunsthandwerk sowie Design ist Design, da die letzteren beiden funktionsgebunden und im weitesten Sinne „nützlich“ sind (Hans Wichmann ehem. Leiter der Neuen Sammlung München sprach einmal vom Design als „Kunst, die sich nützlich macht“).

Die Geschichte unseres Faches belehrt uns jedoch eines anderen. Und genau deshalb sind die Texte der Klassiker auf diesem Gebiet zu studieren.

Gottfried Semper reflektierte bereits 1851 sichtlich unter dem Eindruck der Londoner Weltausstellung, der ersten großen Vergleichsschau der Wirtschaftsnationen im Zeitalter des Konkurrenzkapitalismus, das Verhältnis von Kunst zur Industrie oder mit anderen Worten zur Maschine: „Die Maschine näht, strickt, schnitzt, malt, greift tief ein in das Gebiet der menschlichen Kunst und beschämt jede menschliche Geschicklichkeit. Sind dies nicht große herrliche Errungenschaften?“ Gleichzeitig warnt er aber vor dem mißbräuchlichen Einsatz der Maschine und bereitet die Argumentation der ‘guten, ornamentlosen Form’ – ein Leitsatz späterer Designtheorien – vor.

„Wohin führt die Entwertung der Materie durch ihre Behandlung mit der Maschine, durch Surrogate für sie und noch so viel Erfindungen .. Ich meine natürlich nicht ihre Entwertung im Preise, sondern in der Bedeutung, in der Idee“ – womit sich wieder ein Bogen zur Renaissance-Definition des „disegno“ als „prima idea“ schlagen läßt. Expressis verbis weist er schließlich das „dualistische Trennen der hohen und der industriellen Kunst zurück“

Zur Einschätzung von Sempers Position soll hier Ernst H. Gombrich zu Wort kommen ( „Ornament und Kunst“ engl. 1979, deutsch 1981):

„Wegen seiner Ansichten über die Wichtigkeit des Materials in Architektur und Handwerk wurde Semper eine Art Vaterfigur der modernen Bewegung. …

Wer zu Semper mit der Erwartung kommt, einen Materialisten oder Funktionalisten zu finden, wird jedenfalls etwas erstaunt sein.“

Für uns beginnt die Geschichte des Möbeldesign mit den Gebrüdern Thonet um die Mitte des 19.Jh.s, weil hier erstmals industrielle Fertigung in großem Maßstab vorliegt. Genau dieses technologisch fortgeschrittene, moderne Verfahren findet nun aber bei Semper überhaupt keine Zustimmung. Vielmehr beklagt dieser die Erfindung der Brüder Thonet in Wien für das Biegen von Holz zur Erzeugung von Möbeln, weil sie dem Material Gewalt antut (worauf ebenfalls Gombrich hinweist).

Rund eine Generation nach Semper formulierte William Morris – vielleicht der wichtigste Vertreter der englischen ‘Arts and Crafts’-Bewegung, die mit der rückwärtsgewandten Utopie der Wiederbelebung des Handwerks auf die fortschreitende Industrialisierung reagierte – seine „Ziele der Kunst“. „Deshalb ist das Ziel von Kunst die Vermehrung des menschlichen Glücks …“ Die Maschine sollte nur zur Erleichterung der menschlichen Arbeit eingesetzt werden. „Treibt er (= der Mensch) aber die Benutzung einer Maschine beim Herstellen von Kunst auch nur einen Schritt weiter, dann handelt er unvernünftig, wenn er die Kunst schätzt und frei ist.“ Keinesfalls aber dürfe der Mensch zum „Sklaven der Maschine“ werden.

Offenbar war noch ein weiter Weg bis zur Akzeptanz industrieller Produktion von formal und funktional gut gestalteten Gebrauchsgegenständen zurückzulegen.

Alois Riegl wandte sich anschließend in seiner „Spätrömischen Kunstindustrie“ (1901) mit seinem Ansatz des „Kunstwollens“ dezidiert gegen die „materialistische Metaphysik“ Sempers und führt Kunst und Kunstgewerbe argumentativ wieder zusammen. Seiner Meinung nach seien die Entwicklungen „in allen Kunstgattungen gleich“.

1908 formulierte dann Adolf Loos seine folgenreichen Thesen über „Ornament und Verbrechen“ und weist damit weit in die gestalterische und designtheoretische Zukunft, die spätestens seit der klassischen Moderne der 1920er Jahre die klare „sachliche“, d.h. ornamentlose Formgebung zur Maxime erhob: „evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande“ Seine ‘volkswirtschaftliche Begründung’ sei noch einmal in Erinnerung gerufen: „Das ornament verteuert in der regel den gegenstand … Das fehlen des ornamentes hat eine verkürzung der arbeitszeit und eine erhöhung des lohnes zur folge … Ornament ist vergeudete arbeitskraft und dadurch vergeudete gesundheit. So war es immer .“

Schlußendlich schlägt er mit dieser an den angewandten Künsten entwickelten Theorie sogar den Bogen zu den sogen. freien Künsten: „Das fehlen des ornamentes hat die übrigen künste zu ungeahnter höhe gebracht“.

Hatte es der Deutsche Werkbund 1907 geschafft, Künstler und Industrielle in einer Vereinigung zusammenzuführen, so war man damit noch lange nicht einer Auffassung über die Rolle von Kunst und industriell gefertigten Entwürfen (= Produktdesign). 1914 kulminierten diese Differenzen im sogenannten Werkbundstreit zwischen Hermann Muthesius und Henry van de Velde auf der Kölner Werkbundausstellung. Der von Muthesius geforderten „Typisierung“ setzte van de Velde den Künstler als „glühenden Individualisten“ entgegen, der sich niemals „in eine allgemeingültige Form hineintreiben“ lasse.

Was sich hier bereits andeutet, ist die Utopie der klassischen Moderne von allgemeingültigen Lösungen in der Formgebung wie sie beispielsweise durch das Bauhaus vertreten wurde. 1919 unter Walter Gropius gegründet, strebte man zunächst in der Weimarer Zeit nach einer neuen Einheit von „Kunst und Handwerk“ (so Gropius im Manifest von 1919); mit der Übersiedlung nach Dessau 1923 verschoben sich die Ziele in Richtung „Kunst und Industrie eine neue Einheit“. 1925 schließlich hatte man vollends den „Massenbedarf“ im Blick: „Die Lebensbedürfnisse der Mehrzahl der Menschen sind in der Hauptsache gleichartig, Haus und Hausgerät ist Angelegenheit des Massenbedarfs, ihre Gestaltung mehr eine Sache der Vernunft, als eine Sache der Leidenschaft. … Die Bauhauswerkstätten sind im wesentlichen Laboratorien, in denen vervielfältigungsreife, für die heutige Zeit typische Geräte sorgfältig im Modell entwickelt und dauernd verbessert werden.

Das Bauhaus will in diesen Laboratorien einen neuen bisher nicht vorhandenen Typ von Mitarbeitern für Industrie und Handwerk heranbilden, die Technik und Form in gleichem Maße beherrschen“.

Bekanntlich knüpfte die nach dem 2. Weltkrieg unter ausgesprochen antifaschistischen Vorzeichen gegründete Ulmer Hochschule für Gestaltung (1953-1968) an die Ideen des Bauhauses an. Erwartungsgemäß existieren auch hier unterschiedliche Auffassungen über das Verhältnis von industrieller Formgebung (Design) zur Kunst. Während die Gründer der Hochschule, Inge Aicher-Scholl und Otl Aicher an die Utopie einer Ausbildungsstätte für eine neue Generation von Gestaltern glauben, in der Design als umfassende „Zivilisationsarbeit“ gelehrt werden sollte, verstand sich der erste Direktor der Hochschule, der Schweizer Künstler Max Bill, als künstlerischer Gestalter. Für ihn war der Entwerfer letztlich ein Künstler. Wegen dieser Differenzen verließ Bill 1957 schließlich die Schule.

Der über Jahrzehnte hinweg dominierende funktionalistisch asketische Stil in der Tradition von Bauhaus und Ulm wirkten in den 1970er und insbesondere den 1980er Jahren Bewegungen wie das italienische „Radical Design“ oder das gesamteuropäische „Neue Design“ entgegen. Der Aufstand gegen das Quadratisch-Praktische, das Ornamentlose und Langweilige der Gestaltung zeigt nun wieder eine größere Nähe zur Kunst. Konzepte, Ideen, formgewordene Manifeste zählen mehr als das perfekte industriegerechte Finish. Der Band 66 (Okt. 1983) des Kunstforum International trägt den bezeichnenden Titel „Zwischen Kunst und Design – Neue Formen der Ästhetik“. Der Herausgeber, Rainer Wick, behandelt „Das Ende des Funktionalismus: am Beispiel des Möbeldesign“ trendsetzender italienischer Gruppen wie Alchimia und Memphis. Das lange Zeit maßgebliche, Louis Sullivan zugeschriebene Prinzip guten Designs „Form follows Function“ wird nun umgekehrt: „Die Form geht vor der Funktion“.

Durch die Theorien der Postmoderne ist plötzlich wieder alles offen: Künstler machen Design, Designer machen Kunst. Das industrielle Serienprodukt tritt zumindest in der öffentlichen Beachtung weit hinter spektakulären Unikaten zurück. Die Fertigungsweise kann mit Fug und Recht als anachronistisch bezeichnet werden, Entwurf und Ausführung lagen ganz im Gegensatz zur Realisierung von Entwürfen des Produktdesign häufig sogar wieder – ganz wie beim klassischen Kunst-Handwerk – in einer Hand. Selbstverständlich waren auch Ornamente nicht länger tabuisiert.

Die hier kurz skizzierte und wechselvolle Geschichte des Kunsthandwerks, der entsprechenden, beispielhaft erwähnten Museen und die Positionen der Theoretiker stellen sich zusammenfassend also folgendermaßen dar:

1) Kunst und Kunsthandwerk erfreuten sich über Jahrhunderte hinweg gleicher Wertschätzung.

In der Dürer-Stadt Nürnberg braucht wohl kaum daran erinnert werden, daß Albrecht Dürer sowohl als Maler wie auch als Entwerfer für das, was wir heute Kunsthandwerk nennen, reüssierte.

Auch Benvenuto Cellini – nach unserem Verständnis durchaus als Kunsthandwerker trotz seiner Bronzeskulpturen zu bezeichnen – genoß

etwa zur gleichen Zeit wie Dürer hohes gesellschaftliches Ansehen.

2) Erst mit der industriellen Revolution und ihren Auswirkungen im 19.Jahrhundert entstand eine Konkurrenz zwischen handwerklich und industriell hergestellten „Gebrauchsobjekten“.

Kunstgewerbemuseen versuchten durch das Anlegen sogenannter Vorbildersammlungen dem entgegenzuwirken. In ihrer durch den Historismus kunsttheoretisch begründeten Ideologie scheiterten sie jedoch in dem Moment als man die Geschichte als Vorbild und Anreger zeitgenössischer Gestaltung für obsolet erklärte. Die Versuche, handwerkliches Gestalten wieder in ihre alten Rechte einzusetzen, waren vergebens.

Die Industrie siegte. Spätestens im 20.Jh. übernahm – so meine These – das Industriedesign, spezieller das Produktdesign die Rolle des Kunsthandwerks. Nicht mehr handwerklich, sondern industriell umgesetzte Entwürfe wurden und werden zum “Allgemeingut“.

Dennoch – und das sei ganz zum Schluß als „Trost“ für alle Kunsthandwerker hier konstatiert – hat das Kunsthandwerk oder nennen wir es besser die Angewandte Kunst einen wichtigen Leerraum besetzt:

Nur in dieser Nische findet nicht entfremdete Arbeit im Marxschen Sinne statt. Entwurf und Ausführung liegen – noch immer – in einer Hand. Dies besitzt in unserer Gesellschaft durchaus utopische Qualitäten.

Man hört und liest derzeit viel von creative industries.

Ich denke, wir müssen den creative handicrafts zu neuer Geltung verhelfen.

Ich danke dafür, daß Sie mir zugehört haben.

Im November 07

Dr.Wolfgang Schepers
(Direktor des Museums August Kestner, Hannover)