Auf EinenBlick: Gefäße – Ausstellung des Forums für Angewandte Kunst in Nürnberg, 20. November 2008
Meine Damen und Herren!
Ich weiß nicht, was Ihnen durch den Kopf ging, als Sie die Einladung zur heutigen Ausstellung in Händen hielte: Gefäße – die Wohnung ist voll davon und sie begleiten uns den ganzen Tag, von der morgendlichen Tasse Kaffee bis zum Zahnglas, das wir als letztes zur Hand nehmen, ehe wir zu Bett gehen. Was immer wir tun, wir benützen dauernd irgendwelche Gefäße – Schüsseln und Schalen, Kochtöpfe und Papierkörbe, Flaschen und Fläschchen, Dosen und Döschen. Sie begegnen uns wieder, wenn wir Museen besuchen. Der Gedanke liegt nahe, dass am Beginn der menschlichen Kultur der Gebrauch von Gefäßen stand. Das könnte damit angefangen haben, dass man, da man sich nicht mehr mit Quellwasser zufrieden gab, nicht mehr aus der hohlen Hand, sondern aus einer Schale oder einem Becher trank, dass man Vorräte in Körben und anderen Behältnissen aufzubewahren begann, dass man Nahrungsmittel nicht mehr nur am Spieß briet, sondern kochte und schließlich auch Gefäße zum Verzehr der Speisen erfand. Aus diesen grundlegenden praktischen Funktionen entwickelten sich soziale Funktionen, Gefäße konnten zu Medien der Repräsentation und Kommunikation werden. Oft spielen sie im Kult eine zentrale Rolle – denken Sie an die Vasa Sacra im christlichen Gottesdienst, vor allem an die Bedeutung des Mess- oder Abendmahlskelchs; Sie können auch die von den Archäologen als Rhyton bezeichneten Spendegefäße in Tierform heranziehen, mit denen im Totenkult der Antike flüssige Opfer dargebracht wurden.
Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm widmet dem vom Verbum fassen abgeleiteten Gefäß einen zwei Seiten langen Artikel, aus dem man erfährt, dass das Wort noch weitere Bedeutungen umfasste: Blutgefäße und Staubgefäße sind uns in Medizin und Botanik noch geläufig; im Mittelhochdeutschen konnte gevaeze auch für Schmuck und Kleidung stehen, also für das worin der Leib gefasst wird, ehe es mehr und mehr gleichbedeutend mit Behältnis wurde.
Die Werkstoffe, aus denen Gefäße hergestellt werden, reichen von Holz und Stein, Knochen, Horn und Elfenbein, Ton und Glas bis zu den verschiedenen Metallen, im 19. /20. Jahrhundert sind noch diverse Kunststoffe hinzugekommen, wobei für uns Europäer exotische Materialien wie Kürbisse, Kokosnüsse, Muscheln, Straußeneier noch gar nicht berücksichtigt sind. Vielfältig wie die Materialien sind auch die Techniken, die bei der Herstellung zum Einsatz kommen – eine Aufzählung der von Beckenschlägern, Kannegießern, Kupfer- und Silberschmieden, Töpfern, Drechslern, Glasbläsern, Böttchern, Korbflechtern, Steinschleifern usw angewandten Verfahren will ich mir sparen.
Ein großer Teil der hier genannten Berufe ist heute so gut wie ausgestorben, fristet allenfalls noch eine Randexistenz, was nicht ausschließt, dass scheinbar Untergegangenes unter veränderten Vorzeichen zu neuem Leben erwacht – die Korbflechterei könnte man hier als Beispiel nennen. Was uns heute an Gefäßen umgibt, ist zum größten Teil industriell hergestellt. Aber daneben hat sich allen gegenteiligen Prognosen zum Trotz, die besonders in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts für das Handwerk keine Zukunftsperspektive sehen wollten, weil es eine durch die Entwicklung der Produktivkräfte überholte Form der Arbeit darstellte – allen diesen Prognosen zum Trotz hat sich neben der Industrie das Handwerk erhalten, genauer: eine spezielle Ausprägung, die wir als Kunsthandwerk zu bezeichnen pflegen. Ich übernehme diese Bezeichnung, ohne zu verkennen, dass sie für manche Zeitgenossen mit negativen Implikationen aufgeladen ist, weshalb sie es vorziehen, von Angewandter Kunst zu sprechen. Auf diese Diskussion will ich mich heute nicht einlassen. Ich halte also am Begriff Kunsthandwerk fest, auch weil ich glaube feststellen zu können, dass es seit einigen Jahren an Ansehen gewonnen hat. Das schlägt sich in einem erstarkten Selbstbewusstsein der Kunsthandwerkerinnen und Kunsthandwerker nieder, die es offenbar nicht länger nötig haben, nach den scheinbar höheren Weihen der „freien“ Kunst zu schielen, sondern sich des eigenen Wertes sicher sind. Vielleicht auch, weil sie mittlerweile gelernt haben, sicher zwischen der Scylla Industrie und der Charybdis Kunst hindurchzusegeln, beide kritisch im Blick behaltend und dadurch der Gefahr eines Schiffbruchs ausweichend. Es scheint mir jedenfalls kein Zufall, dass das Thema Gefäß im Kunsthandwerk wieder ganz weit oben rangiert, was sich auch in der öffentlichen Wahrnehmung bemerkbar macht. Der angesehene Dannerpreis wurde dieses Jahr für eine Gruppe keramischer Gefäße an Katja Maechtel verliehen, mit Ehrenpreisen wurden Gefäßkreationen der Goldschmiede Peter Bauhuis und Christine Graf ausgezeichnet (Christine Grafs Arbeiten können Sie heute auch hier bewundern). Ein ähnliches Bild bietet Baden-Württemberg: die diesjährigen Staatspreise gingen ebenfalls an Kunsthandwerker, die sich mit Gefäßen beschäftigen, an die Keramiker Carola Gaensslen und Joachim Lambrecht sowie den Korbflechter Klaus Seyfang; und auch beim BKV-Preis für junges Kunsthandwerk war der Gewinner, Hiawatha Seiffert aus Hildesheim, mit geschweißten und geschmiedeten Gefäßen angetreten.
Das Gefäß, das Karl Scheid, Doyen der deutschen Keramik, der sich ein Leben lang mit diesem Thema beschäftigt hat, Karl Scheid hat es als „dreidimensionale, raumumschließende Form“ beschrieben, und diese Form scheint deshalb nichts von ihrer Faszination verloren zu haben, weil die Spannung zwischen Freiheit und Regel hier immer wieder neu zu einem Ausgleich geführt werden muss. Obwohl die Vielfalt der Formen, wie ein Blick in die Geschichte zeigt, unendlich groß zu sein scheint, sind ihr doch Grenzen gesetzt, die sich aus praktischen Funktionen und gesellschaftlichen Übereinkünften herleiten. Diese Grenzen sind nicht ein für allemal definiert, sondern unterliegen historischem Wandel. Sie immer neu abzutasten und auf die Probe zu stellen, ist für Kunsthandwerker, gleich welcher Profession sie zugehören, nach wie vor offenbar eine Herausforderung.
Ich will versuchen, das an Beispielen aus der heutigen Ausstellung darzustellen, deren Bogen sich von Gefäßen, bei denen der praktische Gebrauch im Vordergrund steht, zu solchen spannt, die vor allem als ästhetische Gebilde wahrgenommen werden wollen. Die meisten der hier ausgestellten Objekte sind irgendwo zwischen diesen beiden Polen angesiedelt, wobei nicht eigens darauf hingewiesen werden muss, dass Funktion nicht ohne Form möglich ist und auch die freieste Schöpfung, solange sie Gefäß bleiben will, noch eine Funktion, die Möglichkeit praktischen Gebrauchs erkennen lässt. Zu der erstgenannte Gruppe gehören die Arbeiten von Berthold Hoffmann, dem es in den letzten Jahren gelungen ist, handgefertigtem gusseisernem Kochgeschirr, das unverkennbar seine Handschrift trägt, aber vor allem durch seine Funktionalität überzeugt, wieder einen festen Platz in der Küche zu sichern. Zu diesem Erfolg mag der soziale Stellenwert beigetragen haben, der dem Kochen heutzutage zugemessen wird. Wo Kochen und Essen als gemeinschaftsbildende Aktivitäten erlebt werden, findet auch das dazu verwendete Gerät Aufmerksamkeit – eine Aufmerksamkeit, die sich nicht damit zufrieden gibt, dass ein Topf oder Bräter seinen praktischen Zweck optimal, erfüllt. Hier gilt, was schon Walter Gropius im Hinblick auf die Entwicklungsarbeit der Bauhaus-Werkstätten gesagt hat: „Ein Ding ist bestimmt durch sein Wesen. Um es so zu gestalten, dass es richtig funktioniert – ein Gefäß, ein Stuhl, ein Haus – muß sein Wesen zuerst erforscht werden; denn es soll seinem Zweck vollendet dienen das heißt, seine Funktionen praktisch erfüllen, haltbar, billig und schön sein.“ Ich habe Gropius, dem es eigentlich um industrielle Produktion geht, deshalb zitiert, weil er die Schönheit ausdrücklich als notwendige Eigenschaft eines Gebrauchsgegenstandes aufführt, der seinem Zweck vollendet dienen soll. Dass auch der Schönheitsbegriff historischem Wandel unterliegt, dass die von Gropius propagierten Formen von vielen seiner Zeitgenossen nicht als schön empfunden wurden, sie nur am Rande vermerkt.
Gewissermaßen den Gegenpol zu diesen dem praktischen Gebrauch dienenden Geräten bilden in dieser Ausstellung die Gefäße von Christine Graf. Die Künstlerin nennt sie selbst Gefäßobjekte und gibt damit zu verstehen, dass es sich um Gebilde handelt, die in erster Linie unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet sein wollen. Es sind Objekte, über deren Herstellungsprozess man lange rätseln kann. Tatsächlich kombinieren sie hochmoderne Technik mit alter Handwerkskunst, lassen beides aber nicht sogleich erkennen. Ihr Ausgangsmaterial sind feine Kupfernetze – ein industriell hergestelltes Halbzeug –, die nach Papiervorlagen geschnitten, aufgebogen und mit Laser verschweißt werden, um anschließend mit farbigen Email überzogen zu werden. Dass es sich bei der matten, leicht körnigen Oberfläche um Email handelt, ist auf den ersten Blick wiederum nicht sogleich erkennbar. Das Ergebnis sind Objekte – ebenso präsent wie geheimnisvoll. Durchaus stabil sind sie zugleich Metaphern für Zerbrechlichkeit, Leichtigkeit, Vergänglichkeit – Seelengefäße, in denen man Traäume und Wünsche aufbewahren, vielleicht auch Ängste verstecken kann.
Kehren wir aus diesen Gefilden der Poesie in die Küche bzw. an den gedeckten Tisch zurück, so fallen einem in der Ausstellung als nächstes die handgetöpferten Teller und Schalen von Barbara Butz-Glas auf, die sich durch ihre klare Form und kräftige Farbigkeit entschieden von der gängigen Marktware abheben. Sie stehen für eine neue, durch die Einflüsse fremdländischer Küchen und Essgewohnheiten veränderte Tischkultur, aus der das traditionelle Service weitgehend verdrängt worden ist und einer Vielzahl individueller Gefäße Platz gemacht hat. Bei Barbara Butz-Glas nehmen sie durch ihre schimmernde Farbigkeit einen festlichen Charakter an.
Schlicht und streng sind auch die flachen Schalen von Billa Reitzner, deren Form an KPM-Porzellane der 1920er Jahre anknüpft. Ihr Thema ist das Wechselspiel von offen und geschlossen, das in der zunehmend durchbrochenen Wandung entfaltet wird.
Formal damit verwandt sind die Metallschalen von Katja Höltermann, die von „kleinen Persönlichkeiten“ spricht, wenn sie ihre Arbeiten beschreibt. „Ich ordne“, sagt sie, „den Dingen durch ihre Form einen Charakter zu, der ihre Funktion unterstützt und individuell macht.“ Das ist beste Nürnberger Tradition, die sich auf Andreas Moritz berufen kann, ohne bei ihm stehen zu bleiben. Auch die Gefäße von Katja Höltermann sind schmucklos, klar, ausgewogen in ihren Proportionen – aber sie haben ein spielerisches – nicht verspieltes! – Moment, das dem Pathetiker Moritz fremd gewesen ist. Ihren Gefäßen begegnet man nicht mit Ehrfurcht, sondern mit Freude und Neugier. Die ovalen Schalen, die sie für die heutige Ausstellung ausgewählt hat, ruhen nicht wie üblich auf einem Fuß oder Standring, sondern balancieren auf vier oder mehr Füßchen. Zoomorphes klingt an – aber es bleibt bei der Andeutung, ein geistreiches Spiel, das auch Katja Höltermanns sonstige Arbeiten kennzeichnet.
Lässt man nun den Blick weiter auf die Arbeiten der anderen Silberschmiedinnen gleiten, so ist auch hier die Herkunft aus einer Tradition unverkennbar, die abgekürzt als „Form ohne Ornament“ beschrieben werden kann. Aber der geradezu dogmatische Rigorismus, mit dem das Ornament von Adolf Loos und seinen Anhängern aus dem Gebrauchsgerät verbannt wurde, ist einer ruhigen Gelassenheit gewichen. Bei Kerstin Beckers Dosen sind Reminiszenzen an historische Vorbilder erkennbar, ohne dass sie sich in den Vordergrund drängen oder einfach als Versatzstücke in postmoderner Manier zitiert werden. Kerstin Becker bekennt sich zu einer handwerklichen Tradition, deren Reichtum sie zu nutzen versteht, um zu eigenem Ausdruck zu finden. Josephine Lützel zeigt auf der heutigen Ausstellung kleine silberne Vasen als Beispiele einer Werkreihe, die sich um asymmetrische Körper auf dreieckiger Grundfläche dreht. Durch Wölbung und Verdrehung der glänzend polierten Seitenflächen verleiht sie den Körpern eine eigene Dynamik und plastische Qualität, die sie aus jedem Blickwinkel anders erscheinen lässt. Das von Neugier getriebene Spiel mit der Form, um das es Josephine Lützel bei diesen Arbeiten in erster Linie geht, erlaubt ihr, wie sie selbst sagt, „den Blick auf die Funktion weitestgehend in den Hintergrund zu rücken;“ ganz aus dem Blick gerät die Funktion aber auch hier nicht. Vor allem plastische Form hören die Objekte doch nicht auf, Gefäße zu sein. Sie gewinnen gerade durch diesen Bezug ihre Stärke und Spannung.
Von Annette Zeys Gefäßen könnte man behaupten, dass bei ihnen Form und Ornament zusammenfallen. Die Wandung ihrer Schalen ist aufgelöst, denn sie entwickelt diese Schalen aus Modulen, die sie zu einem lockeren „Gewebe“ zusammenfügt, was vielfältige Durchblicke und Überschneidungen ergibt. Innen und Außen spielen auf raffinierte Weise zusammen. Der neuen Gruppe dieser Modulschalen, von denen hier ein Beispiel ausgestellt ist, liegen Topographien bestimmter Landschaften zugrunde (sie werden im Titel mit ihren geographischen Koordinaten genannt). Ihr Relief ist auf der Innenseite der Schalen durch Höhenpunkte wiedergegeben. Ein Spiel, das den Wissenden erbaut, dessen Kenntnis aber nicht erforderlich ist, um sich an den ungewöhnlichen Schalen zu erfreuen.
Noch einen Schritt weiter geht Juliane Schölß. Sie behält bei ihrer Gefäßstudie die klare, schmucklose Form des Zylinders bei, eine Form, welche die Theoretiker der 20er Jahre der „technischen Zweckform“ zugerechnet haben, legt aber die Gesamtform nicht fest. Becher, Deckel, Dose und Schale lassen sich auf unterschiedliche Weise miteinander kombinieren. Das eröffnet dem Benutzer Freiräume – allerdings in festgelegten Grenzen, die diese Gefäße von modischen Designprodukten unterscheiden, mit denen dem Kunden ein „Selbstbestimmungspotential“ suggeriert wird.
Dass Geräte aus Metall in Nürnberg besonders zahlreich vertreten sind, hat, wie schon angedeutet, mit der Rolle der Metallklasse an der Akademie der Künste zu tun, die viele der besten Köpfe und Hände in diese Stadt lockt. Sie beschäftigen sich längst nicht mehr nur mit Silber. Die Gruppe Buntmetall, zu der Berthold Hoffmann und Paul Müller gehörten, hat das schon in den 1980er Jahren vorgemacht, andere sind ihr, wie Sie, meine Damen und Herren, auch heute beobachten können, auf diesem Weg gefolgt. Mit Uwe Weber und Roland Herrmann, die gemeinsam eine Werkstatt betreiben, ist die Metallszene um eine weitere Variante bereichert worden. Die beiden sind Grobschmiede, ihr Material sind Stahlronden, aus denen sie mit schwerem Gesenkwerkzeug ausdrucksstarke Objekte formen, die eigentlich nur noch im übertragenen Sinn als Schalen bezeichnet werden können.
Durch das Übergewicht der Metallgestalter werden andere Werkbereiche etwas in den Hintergrund gedrängt, doch tragen nicht zuletzt sie zur Vielfalt der kunsthandwerklichen Szene Nürnbergs bei, als deren Kristallisationspunkt sich seit 12 Jahren das Forum für Angewandte Kunst etabliert hat. Glas und Keramik kann man erwarten, wo Kunsthandwerk präsentiert wird – Christine Wagner und Cornelius Réer repräsentieren es auf hohem Niveau. Christine Wagner mit Kastenvasen, die sie aus selbst gemischtem Ton, der ihnen ihre besondere Farbigkeit gibt, aufgebaut und deren architektonischen Charakter sie mit einer weißen Kaolinengobe hervorgehoben hat; Cornelius Reer mit frei geblasenen Vasen aus farbigem Glas, deren Oberfläche er mit dem Sandstrahl bearbeitet und dann nachgeschliffen hat, um ihrer Farbigkeit matten Glanz zu geben. Holz, aus dem Boris Bransky in frischem Zustand dünnwandige pendelnde Schalen dreht, ist schon ein seltenerer Gast. Besonders haben mich aber die gewebten Gefäßhüllen von Sigrid Reeckmann verblüfft, weil ich mir – ich gebe es gern zu – nicht vorstellen kann, wie sie gewebt werden. Weberei ist für mich Flächenkunst – und nun stehen diese Behältnisse vor mir – klare, einfache Formen, ohne allen modischen Schnickschnack, aber von verführerischer Lebendigkeit der Oberflächen,, Verwandte der Gefäße von Christine Graf. Sigrid Reeckmann nennt sie Stelen,was kaum zu ihrem labilen Charakter passt, aber vielleicht auf eine vergangene Kultur verweist, die wir kaum mehr erinnern.
Ich habe, wie Sie bemerkt haben werden, bisher einige Objekte aus verschiedenen Werkbereichen übergangen, auf die ich nun zurückkommen möchte, weil sich an ihnen die besondere Stellung des Kunsthandwerks zwischen Kunst und Industrie eindrücklich zeigt. Dass industrielle Produktion Massenproduktion ist, wird kaum irgendwo so augenfällig wie beim Verpackungsglas. Getränke, Konserven, Instantkaffee, Gewürze, Kosmetikartikel und vieles andere mehr wird in Gläser abgefüllt, die millionenfach industriell hergestellt werden. Aus dieser Masse lässt Sybille Homann individuelle Charaktere erstehen, indem sie Flaschen, die es in zahllosen Farben und Formvarianten gibt, zerschneidet und die so gewonnenen Einzelteile als Bauelemente verwendet, um daraus z. B. Karaffen herzustellen. Das Prinzip des Baukastens ist aus der Industrie bekannt, in der Automobilbranche kommt es in großem Umfang zum Einsatz. Bei Sybille Homann gewinnt es seinen ursprünglichen spielerischen Charakter zurück, denn sie verfügt nur über eine begrenzte Zahl von Elementen, aus denen sie ihre Gefäße baut. Sie bevorzugt deshalb möglichst anonyme Ausgangsformen, Weinflaschen z. B., die nicht mit einem bestimmten Produkt, sie es Coca Cola oder ein edel verpacktes Mineralwasser, in Verbindung gebracht werden. Auch so steht ihr immer noch eine reiche Palette vor allem von Grün- und Brauntönen zur Verfügung, deren Kombination Einförmigkeit in lebendige Vielfalt verwandelt.
Industriell hergestelltes Verpackungsmaterial bildet auch den Ausgangspunkt der neuen Werkgruppe von Askan Hertwig. Ihn interessiert das Relief, das sich z. B. bei den Einsätzen von Pralinenschachteln dadurch ergibt, dass Vertiefungen für die einzelnen Süßigkeiten aneinandergefügt werden. Er formt sie ab, um daraus im Wachsausschmelzverfahren Gefäße mit stark reliefierter Oberfläche zu gewinnen. Die Gebrauchsform verwandelt sich dabei in ein Ornament, das positiv oder negativ auftreten kann – und dabei seine Herkunft kaum mehr verrät.
Als einen Rekurs auf die Pop Art könnte man Paul Müllers „Dosenkönige“ verstehen. Andy Warhol hat Campbell’s Soup Dosen in den Rang der Kunst erhoben. Paul Müller setzt gewöhnlichen Tomatenmarkdosen die Krone auf und verwandelt sie in Leuchter, weist ihnen also einen neuen, „höheren“ Verwendungszweck zu, anstatt sie in der Wertstofftonne zu entsorgen. Das heißt, er liefert die Krone – welche Dose er damit krönen will, bleibt dem Benutzer überlassen.
Ich bin am Ende meines virtuellen Rundgangs, der eher ein Kreuz-und-Querlaufen war auf einem Feld, das an einem Abend nicht abgeschritten werden kann. Aber vielleicht haben Sie, meine Damen und Herren, Lust bekommen, sich heute abend und in den nächsten Tagen selbst auf Entdeckungsreise zu begeben. Dann hätte ich meine Mission erfüllt. Die Ateliers der Kunsthandwerker sind ab morgen geöffnet – machen Sie davon Gebrauch und seien Sie herzlich bedankt für Ihre Aufmerksamkeit.
© Peter Schmitt, Karlsruhe